Sonntag, 1. Dezember 2013

Als die Armenier aus Maraş nach Uruguay flohen (Übersetzung von Ferda Çetins Artikel "Maraş'tan Uruguay'a Kaçabilen Ermeniler")

Beim hier vorliegenden Text handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Türkischen.
Der Artikel wurde ursprünglich von Ferda Çetin verfasst und kann im Original unter folgendem Link gelesen werden:
"Maraş'tan Uruguay'a Kaçabilen Ermeniler" von Ferda Çetin

Uruguay liegt am anderen Ende der Welt. Der heutige Stand der Technik erlaubt es, das Land innerhalb gerade einmal eines einzigen Tages mit dem Flugzeug zu erreichen. Vor hundert Jahren gab es keine Alternative zu den Schiffen, auf denen die Überfahrt dorthin fünf bis sechs Monate dauerte, um die unüberbrückbar erscheinende Entfernung zu bewältigen. Vor einigen Jahren besuchte der Journalist M.Ali Doğan im Rahmen seiner Lateinamerikaberichterstattung auch Uruguay. Als er hörte, dass dort eine große Anzahl von Armeniern lebt, erforschte er ihren Werdegang, fand die Geschichte eines hundert Jahre andauernden Exils vor und beschloss eine Reportage darüber zu machen.

Die Mehrheit der heute 70 bis 80 jährigen Kindergeneration der Armenier aus Maraş kennt jedes Detail im Leben ihrer Väter und Mütter. Jeder von ihnen erzählt von Völkermord, dem Beginn der Jugend in einer Flüchtlingsfamilie und von persönlichen Tragödien.
Die Auswanderer bauten sich in Uruguay in neues Leben auf. Dennoch haben sie nichts vergessen. Was auch immer notwendig war, um die Erinnerungen am Leben zu halten, haben sie getan. Es gibt sehr aktive Vereine. An bestimmten Tagen kommen dort drei Generationen zusammen.
Die Vereine tragen den Namen „Maraşlılar Derneği“ („Verein derer, die aus Maraş kommen“). Ein alter Armenier fragt M.Ali Doğan, woher er denn komme. Als dieser „Ich komme aus Maraş“ zur Antwort gibt, bricht Jubel aus. “Maraşlı olsun çamırdan olsun!” (zu dt. in etwa: „Wer aus Maraş kommt, der muss aus Lehm gemacht sein“)
Einst waren die Menschen gezwungen aus ihrer Heimat zu fliehen und es hätte nahe gelegen, in einem Nachbarland Zuflucht zu suchen. Aber die Massaker und das gewaltsame Vorgehen, mit dem sich die Armenier konfrontiert sahen, waren derart grausam, dass sie an die weitest möglich entfernten und unerreichbarsten Orte flohen. Daher bevorzugten sie es, nach Uruguay, Argentinien oder die USA zu emigrieren. Sie setzten alles daran sich von Unterdrückung, Barbarei und Gnadenlosigkeit zu entfernen.
Trotz dutzender Regierungswechsel nach Stattfinden des Völkermordes an den Armeniern, erkennt der türkische Staat, einschließlich der AKP, den Völkermord an den Armeniern nicht an. Im Gegenteil, sie versuchen eine Geschichte von Türken mordenden Armeniern und zufällig zu Stande gekommenen Todesfällen bei Umsiedlungsmärschen zu erzählen. Sie versuchen darüber hinaus, die Welt glauben zu machen, die Zahl der massakrierten Armenier beliefe sich nicht auf 1,5 Millionen, sondern es sei plausibler die Opfer auf 350.000 zu beziffern, was eine entschuldbare Zahl darstelle. Offizielle staatliche Historiker schrieben hunderte von Büchern, um der Bevölkerung diese Lügen glauben zu machen. Jedoch zeigen die in den letzten Jahren in rascher Folge veröffentlichten Erinnerungen armenischer Autoren die ganze Absurdität dieser Opferzahldebatte und führen uns die Wahrheit vor Augen.

Der 1889 in Mezre (Provinz Elazığ) geborene Vahan Totovents beschreibt seine tragische Geschichte in “Yitik Evin Varisleri” (zu Deutsch: „Die Erben des verlorenen Hauses“):
„Als wir Kinder in der Silvesternacht darauf warteten, dass der Weihnachtsmann uns unsere Neujahrsgeschenke bringt, hat der Tod an unsere Tür geklopft, ich hielt die Hand meines Vaters.
Sie haben uns freundlich die Hände geschüttelt. Arm in Arm gingen wir aus dem Haus. Während des Marsches durch den strahlend weißen Schnee verloren wir uns aus den Augen. Diejenigen, die jetzt fort gingen, kehrten nie wieder zurück…Den Verlust von Rebeka, eine der Cousinen die Vahan Totovents am meisten am Herzen lag, beschreibt er wie folgt:
Rebeka, die Tochter meiner Tante, war ein kräftig gebautes, gesundes, fleißiges Mädchen vom Geiste eines Dichters. Selbst ihre großen, reinen blauen Augen schienen einen einzustürzen drohenden Himmel erneuern zu können. Dieser Himmel ist über den vorher noch gen Morgenröte in die Höhe schießenden weißen Lilien, die Rebeka angepflanzt hatte, eingestürzt. Rebeka wurde in die arabischen Wüsten deportiert. Die Sonne hatte Muttermale in ihre Stirn und Wangen eingebrannt. All das erfahren zu haben, hat mein Herz ausgebrannt. Rebeka! Die Greuel, die Du erlebt hast schreibend auf mich nehmend, verneige ich mich vor Dir. Nimm hiermit die Tränen Deines Bruders an…“

Hagop Mintzuri aus dem Dorf Armı bei Erzincan, beschreibt die Geschehnisse zwischen 1897 und 1940 in seinen „İstanbul Anıları“ (Erinnerungen aus Istanbul) folgendermaßen:
Im April des Jahres 1915 begannen die Deportation und Vertreibung der Armenier in Istanbul. Ich war damals noch dort als Soldat. Im Mai kamen keine Briefe mehr aus der Heimat. Zweimal sendete ich ein Rückantworttelegramm, doch eine Antwort blieb aus. Auf das dritte Telegramm kam folgende Antwort: „Sie sind nicht hier und befinden sich irgendwo auf einer unbekannten Route“. Mein Großvater Melkon war 88 Jahre alt. Meine Mutter Nanik war 55 Jahre alt, meine Kinder Nurhan, Maranik, Arahit und Haço waren 6, 4, 2 Jahre bzw. erst 9 Monate alt. Meine Frau Voğıda war 29 alt. Wie sollten sie einen Marsch durchstehen? Mein Großvater hätte es nicht einmal bis zum Brunnen von Suazeg geschafft. Temer , ein Kurde aus Gamıh war gekommen. Er war Bauer bei Lusnik, der Tante meines Cousins. Soweit ich mich erinnern kann, hat er die Felder um ihr Haus bestellt. Er sprach ebenso gut wie wir armenisch. Er brachte mir die Nachricht, dass alle Armenier am 4. Juni aus dem Dorf gebracht wurden. Er erzählte mir, dass sie noch die Türen ihrer Häuser und die Tür der Kirche küssten bevor, sie das Dorf verlassen mussten. Wenn einer der Nächsten in ihrem Haus stirbt, wünschten sie sich dann nicht wenigstens gemeinsam zu sterben? Könnten sie dann noch arbeiten? Wer könnte dann schon noch Tag ein Tag aus weitermachen und arbeiten? Ich war Soldat und ich war Befehlen untergeben. Müsste ich sie loslassen und mich damit abfinden?“

Mit den Erinnerungen von Hagop Mintzuri, möchten wir erzählen, wie er als einziges Mitglied seiner Familie übrig bleibt.
Die aus Maraş stammenden Armenier in Uruguay vermissen die Erde und die Menschen in der alten Heimat. Mit Worten wie “Maraşlı olsun çamırdan olsun“ erzählen sie uns das. Vahan Totovents aus Harput fasst die Liebe und die Sehnsucht nach seinem Geburtsort in folgende Worte: „In diesem alten Land ruft die Sonne die Früchte herbei, sie haucht der den Boden überziehenden unerschöpflichen Vegetation Atem ein; Flüsse plätschern, es dämmert gleichmäßig, bis die Sonne in den Armen der Abendlichter untergegangen ist; eine bis zum Rand mit frischer Milch gefüllte silberne Schale schwimmt auf blauem Wasser, die Nächte sind erfüllt von Geistern mit der Stimme der Sterne, die Bäume schweben gen Horizont und alle Blumen vibrieren säuselnd“ (Vahan Totoventes studierte in den USA, bevor es ihn in die Sowjetrepublik Armenien zog. Von Stalins Regime wurde er dort 1936-1937 ins Gefängnis geworfen. Danach hörte man nie wieder etwas von ihm).

Wir haben den Armeniern nichts als Völkermord und Grausamkeit angetan. Das hat unglaublich tiefe Wunden bei den Überlebenden verursacht. Die Menschen hier in diesem Land (Uruguay) haben wir mit endloser Einsamkeit bestraft. Das haben wir denen angetan, die unsere guten Nachbarn waren, und sie haben uns ohne Nachbarn zurückgelassen. Unser Misstrauen und ihre innere Unruhe verhindern, dass wir aus unserer Einsamkeit erlöst werden.


Portal de los armenios del Cono Sur - spanischsprachige Seite der Armenischen Diaspora in Uruguay

Keine Kommentare: